RENE FIX
April 17, 2023
Die Würde des Menschen ist ertastbar
Vor vielen Jahren wurde ich ein Mensch. In jenem kreativen Moment, in dem eine Samenzelle meines Vaters mit einer Eizelle meiner Mutter verschmolz, ist es geschehen. Aus zwei Menschen entstand etwas Neues. Und alles, was entsteht, hat einen Wert. Man kann es benennen und es verdient Anerkennung. Das ist Würde. Sie liegt in der Tatsache, dass etwas einen Wert hat und dieser erkannt wird.
Es ist, was es ist, sagt die Liebe (Erich Fried)
Ich erkenne mich. Ich bin ich, möchte ich sagen. Ich bin abgetrennt von dir durch meine Haut, durch meine Gedankenwelt und meine Identität. Ich habe an einem Moment in der Vergangenheit diese Erde betreten und werde sie an einem Moment in der Zukunft wieder verlassen. Ich habe eine Meinung, eine Identität und eine Persönlichkeit. So erfahre ich mich. Doch ist das wirklich wahr? Kann ich mir dessen sicher sein?
Schaue ich mir einen Apfelbaum an mit Hunderten von kleiner Apfelindividuen, dann muss ich feststellen, dass es auch ein Ganzes gibt. Die Äpfel, die Blätter, der Stamm und der Saft, der diesen Baum durchströmt, bilden ein Ganzes, den Apfelbaum. Die vielen Apfelbäume auf der Streuobstwiese bilden ebenfalls ein Ganzes. Die Streuobstwiese ist wie ein Organismus. Sie hat eine eigene Dynamik und bildet ganz besondere Eigenschaften als dieser Organismus aus. Die Landschaft, die sich erschafft aus den Wiesen, Wäldern, Hügeln, Tälern und eben dieser einzigartigen Streuobstwiese bildet wiederum eine Einheit mit ganz eigenen Qualitäten und Funktionen; so auch die vielfältigen Landschaften und ihre Bewohner: die Menschen, Tiere und Pflanzen. Ja, selbst die von Menschen gemachten Strukturen, wie Gebäude und Straßen bilden alles zusammen genommen eine noch viel größere Einheit - ein Ganzes, abgeschlossen und doch offen. Es lässt sich bis in die Unendlichkeit weiter fassen. Diese scheinbar abgetrennten Einheiten sind offen für viel größere Einheiten, die sie einschließen, bis hin zum allumfassenden Universum. Alles ist verbunden. Und nicht einmal das. Verbinden können sich nur gesonderte Entitäten. Doch wahr ist, dass wir genauso unverbunden wie ungetrennt sind. Wir sind eins.
Da kommt mein Verstand schon deutlich an seine Grenzen. Immerhin sehe ich die Trennung. Doch die Wahrheit liegt jenseits dessen, was ich sehe, rieche oder schmecke. Meine 5 Sinne lassen mich die Welt nur auf einer bestimmten Eben erfahren. Die alten Chinesen nannten diese Ebene „die Welt der 10.000 Dinge“. Auf dieser Ebene definiert sich für mich alles im 3-dimensionalen Raum. Hier bin ich zu Hause, wenn ich mich durch diese Welt bewege. Diese Ebene zu begreifen und in ihr zu leben, macht mich erst handlungsfähig. Auf dieser Ebene kann ich spüren, dass ich Hunger habe, um mich danach handeln zu lassen und mir etwas Leckeres zu essen aus dem Kühlschrank zu holen. Auf dieser Ebene kann ich gut von böse unterscheiden, damit ich weiß, für was ich mich entscheiden mag. Auf dieser Ebene kann ich mir ein Fahrrad kaufen, um künftig schneller zur Arbeit zu gelangen. Auf dieser Ebene bin ich in meinem Alltagsbewusstsein, dem Wachbewusstsein. Typischerweise arbeitet das Gehirn hier mit einer Hirnwellenaktivität von 15-38 Hz. Diesen Hirnwellenfrequenzbereich nennt man Beta.
Doch unter dieser Ebene liegt ein ganzes Meer an Möglichkeiten, das uns allen innewohnt. Jeder erlebt dies täglich beim Zubettgehen. Die Hirnaktivität verlangsamt sich zunehmend, je tiefer man in den Schlaf sinkt. Die Identifikation mit der 3-dimensionalen Welt verringert sich und löst sich schließlich komplett auf. Es öffnen sich neue Informationskanäle und damit einhergehend auch neue Möglichkeiten aus dem Potential des Lebens zu schöpfen. Das Potential ist immer da und es ist unbegrenzt, auch wenn das unser denkender Geist vielleicht nicht akzeptieren mag. Um diese Begrenzung aufzulösen und aus dem Potential schöpfen zu können, benötige ich einen Zugang dazu. Und zwar in gewisser Hinsicht auf bewusste Art. Ich muss also die Bewusstheit des Wachzustandes mitnehmen in die Öffnung, die im tiefen Entspannungszustand entsteht, ohne einzuschlafen. Man kann die Hirnwellenaktivität ganz bewusst verlangsamen und damit Zugang zu dieser Welt des Potentials erhalten. Begeben wir uns beispielsweise über Meditation in einen tiefen Entspannungszustand (Alpha), lösen sich die festen getrennten Strukturen langsam auf. Die eigenen Körpergrenzen werden weniger stark wahrgenommen und Berührung mit anderen Entitäten kann sich einstellen selbst wenn keine physische Berührung besteht. Es öffnen sich neue Sinnes-und Informationskanäle. Die 5 Sinne wie Sehen, Riechen, Schmecken, Tasten und Hören können immer noch verfügbar sein, doch wir müssen uns nicht mehr nur auf sie verlassen. Wir bekommen Informationen auf anderer Ebene. Jeder kennt dieses Phänomen. Wir beschreiben diese oft als Intuition oder Eingebung.
Gehen wir bewusst noch tiefer in die Meditation (Theta), fühlen wir uns nicht mehr nur verbunden mit anderen Dingen, sondern können uns direkt als diese fühlen. Auf der Beta-Ebene erscheint dies wie wildes phantasieren, doch sind wir in Alpha oder Theta, dann ist das real. Und es ist real. Es wird uns nur dort erst bewusst.
Die alte Chinesische Weisheitenlehre des Taoismus besagt, dass alles auf dieser Welt sich aus dem Tao erschafft:
道⽣⼀。
⼀⽣⼆。
⼆⽣三。
三⽣萬物。
萬物負陰⽽ 抱陽,
沖氣以為和。
Der SINN erzeugt die Eins.
Die Eins erzeugt die Zwei.
Die Zwei erzeugt die Drei.
Die Drei erzeugt alle Dinge.
Alle Dinge haben im Rücken das Dunkle
und streben nach dem Licht,
und die strömende Kraft gibt ihnen Harmonie.
(aus Tao Te King, Laotse; Übersetzung Richard Wilhelm)
Der Sinn ist das Tao. Das Tao ist der Ursprung, das Eine, aus dem alles hervorgeht. Im christlich geprägten Westen würden wir dies Gott nennen. Doch ist hier natürlich nicht der bildhafte Gott mit dem langen Bart gemeint. Gott ist Energie. Gott ist ohne Form. Gott ist vor jeglicher Form. Vielleicht kann man sich das als eine Art Energiewolke vorstellen, aber eben immateriell, nur eine Kraft oder ein Feld. In diesem Feld entsteht nun Richtung. Das Feld richtet sich und zwar in zwei Richtungen, eine nach dort hin und eine in die Gegenrichtung. Es entstehen die „Zwei“. Aus dieser Polarität form sich etwas, dass eine Bestimmung bekommt, eine Aufgabe. Das ist die „Drei“. Parallel dazu entstehen weitere gerichtete Felder aus diesem Ursprung, also weitere „Dinge“, bis sich schließlich alles geformt hat, was es gibt und geben kann. Wir können dies niemals begreifen mit unserem Verstand. Wir können es niemals beschreiben mit unserer Sprache. Es liegt jenseits dessen. Es liegt unter allem, was wir begreifen können. Doch es ist da.
Der SINN, der sich aussprechen läßt, ist nicht der ewige SINN.
Wenn alles, was ist, den gleichen Ursprung hat, dann heißt das auch, dass dieser Ursprung allem innewohnt. Denn das, was aus diesem Ursprung entsteht, sondert sich nicht an einem bestimmten Punkt von diesem ab. Auch ein Baby sondert sich nicht von der Mutter ab, nur weil es nach der Geburt außerhalb des Körpers der Mutter wohnt. Es bleibt auf unbegrenzte Zeit eins mit der Mutter. Und dennoch wird dieses Kind auf der Ebene der 10.000 Dinge eine eigene Persönlichkeit mit individuellen Wesenszügen entwickeln. Das Tao ist in allem. Es ist der kleinste Nenner. Es ist das energetische Feld, das uns formt, und zwar in jedem Moment auf ein Neues. Das Feld selbst ist unendlich und ohne Form. Hier gibt es keine Trennung. Stellt man sich dieses Feld als ein riesiges glattes Meer vor, bist du eine Ausstülpung hier und ich eine Ausstülpung dort. Wir werden gewissermaßen über diesem Feld sichtbar. (Begriffe wie „über“ oder „unter“ sind hier nur Hilfsmittel für dieses Bild.) Wenn aber jetzt du und ich aus dem gleichen Feld erschaffen werden, dann können wir auch nicht getrennt sein, bzw. sind wir es nur, wenn wir dem Feld keine Beachtung schenken. Es ist also eine Frage der Sichtweise und somit wiederum eine Frage der Ebenen. Doch bleiben wir kurz in diesem Bild des Meeres und den individuellen Ausstülpungen: Bewege ich mich, bewegt sich das Feld (oder Meer) und in Folge bewegst du dich. Denke ich etwas - und Gedanken sind auch Bewegung - dann bewegt sich das Feld und es verändert deine Gedanken. Alles ist eins. Genauso, wie sich dein ganzer Körper bewegt, wenn du deinen Kopf ein wenig zur Seite neigst, bewegt sich alles auf der Welt, wenn du einen Sprung nach vorne machst.
Und jetzt wird es spannend: Alles erschafft sich aus dem Feld, immer und immer wieder. Ich bin nur diese Ausstülpung aus dem Meer. Ein neuer Gedanke kommt nicht aus mir, also aus dieser Ausstülpung hervor, sondern er kommt aus dem Meer. Aus dem selben Meer, dass auch dich formt. Alles kommt aus dem Feld. Alles ist das Feld.
Meine Gedanken - deinen Gedanken - so etwas gibt es nicht. Mein Gähnen - dein Gähnen - so etwas gibt es nicht. Mein Auto - dein Auto - auch so etwas gibt es nicht, wenn wir um das Feld wissen. So etwas gibt es nur auf der Ebene der 10.000 Dinge. Und diese Ebene ist nur ein Ausschnitt des wahren Seins.
Lassen wir uns auf diese Realität ein, erfahren wir, dass hier alles möglich ist. Da es keine Grenzen gibt, gibt es auch keine Begrenzungen der Möglichkeiten. Alles ist möglich. All dies hat nichts mit unserer physikalischen Vorstellung von Raum und Zeit zu tun. Wenn du dein Bewusstsein um diese Realität erweiterst, bist du mit allem auf immer verbunden. Und du kannst dich entscheiden, ob du auf der Ebene der 10.000 Dinge mit anderen Menschen in Beziehung trittst oder im Bewusstsein des Feldes. Im Shiatsu gehen wir mit den Menschen, die wir berühren in eine tiefe Entspannung. Wir öffnen uns somit ganz automatisch dem Potential des Feldes und bewegen uns weg von der Bewertung die Grenzen schafft. Der Schmerz ist nicht böse. Das Bein ist nicht kaputt. Die Seele ist nicht verrückt. Alles ist, wie es ist. Nur das. Der Mensch mit dem ich in einer Shiatsusitzung arbeite ist, genau wie ich, eine formgewordene Ausstülpung aus dem göttlichen Feld. Ich begegne ihm oder ihr mit Würde in der Berührung, denn es gibt keine Trennung, die mich diesen Menschen zum Objekt machen lässt. Die Würde des Menschen ist das, was ihn werden ließ. Aus Gott heraus wurde dieser Mensch zu dem, was er ist und zwar mit allem, was ihn ausmacht. Mit allem Schmerz und Leid, mit allem Glück, mit seinen Beziehungen, seinen Herausforderungen, seinen Talenten und persönlichen Qualitäten. Und das geschieht ununterbrochen, immer wieder. Der Mensch wird zu dem, was er ist, in jedem Moment. An dieser Schnittstelle von Gott und Werden liegt die Würde. Und diese Würde kann ich berühren, wenn ich mich frei mache von den Begrenzungen der Welt der 10.000 Dinge.
Wir benötigen dazu ein Einlassen. Shiatsu ermöglicht dieses Einlassen. Ich denke nicht in Körperstrukturen. Das Materielle ist etwas, auf das ich Bezug nehmen kann, doch es ist nur ein Phänomen des Lebens. Im Shiatsu berühre ich das Leben an sich. Ich öffne mich für die Magie des Lebendigen und lasse mich davon führen. Es findet immer jetzt statt. Jetzt gehe ich in Begegnung. Ich tauche ein in dieses Wunder und begegne der tiefen Urkraft, die das Leben formt, im Materiellen, wie auch im Immateriellen. Der Mensch „spricht“ zu mir und lässt mich wissen, was er braucht, um Veränderung zu ermöglichen. Denn immer geht es um Veränderung. Das Leben ist Entfaltung. Genauso, wie jede Blume sich Moment für Moment entfaltet, um zu voller Größe zu gelangen und schließlich zu welken und zu sterben, entwickelt sich auch das individuelle menschliche Leben in einem fort. Es findet ein fortwährender Prozess des Werdens statt. Dieses Werden entsteht aus der Urkraft des Tao. Ki (Qi, Lebensatem, Energie) durchströmt den Menschen. Shiatsu ist die Kunst, mit diesem Ki zu kommunizieren und den Prozess des Werdens zu begleiten.